Wenn das Gruseln per Handy ins Kinderzimmer einzieht/ Teil 1: Trickfilmhelden im Blutrausch

Falls Sie zu den Eltern gehören, deren Sprösslinge sich akribisch an die mit Ihnen vereinbarten Nutzungsregeln für Smartphones halten und selbstverständlich nur pädagogisch wertvolle Inhalte im Internet aufrufen:
Herzlichen Glückwunsch, freuen Sie sich über diese seltenen Exemplare!
Sie brauchen gar nicht weiterzulesen!

Wenn Sie als Eltern aber das Gefühl haben, allein auf weiter Flur gegen die nonstop auf die Handydisplays Ihrer Kinder gespülten Flut digitalen Mülls zu kämpfen, seien Sie getröstet: genau dieses Problem haben sehr viele Erziehungsberechtigte.

In diesem Artikel soll es nicht um die Gefahren stundenlanger Internetnutzung, exzessiven Spielens oder gar Cybermobbings gehen. Stattdessen wollen wir uns einem ganz anderen Phänomen widmen, das erstaunlicherweise von vielen Eltern gar nicht als Problem eingestuft zu werden scheint. Nennen wir es der Einfachheit halber „die Besucher im Kinderzimmer“.

Zur Einstimmung stellen Sie sich doch bitte einmal die folgende Situation vor:

Eines Nachmittags entdecken Sie stapelweise DVDs mit der Kennzeichnung „Ab 18 Jahren“ im Zimmer Ihres Sohnes. Einer der Filme sendet bereits über das DVD-Laufwerk befremdliche Bilder von zuckenden, unbekleideten Menschen (oder von blutüberströmten Leichen, die gerade in ihre Einzelteile zerlegt wurden) auf den Monitor, vor dem gerade ihr staunender, zehnjähriger Sprössling sitzt.

Was wäre jetzt Ihre spontane Reaktion? Würden Sie ausrufen: „Oh, wollte dich nicht stören! Guck’ ruhig weiter die schönen Filme, ich höre solange nebenan Musik!“. Oder würden Sie reflexartig auf die „Stopp“-Taste des Mediaplayers klicken, den DVD-Stapel sofort konfiszieren und durch ein verschärftes Verhör herauszufinden versuchen, welcher ältere Knabe im Freundes- und Bekanntenkreis seine private Filmesammlung nicht unter Verschluss gehalten hat?

Die allermeisten Eltern würden sich vermutlich für Variante 2 entscheiden. Schließlich werden Pornos und Gewaltvideos nicht umsonst als „jugendgefährdend“ eingestuft. Erstaunlicherweise tendieren andererseits sehr viele Eltern beim Thema „Kinder und Jugendliche im Internet“ jedoch leider zu Variante 1. Frei nach dem Motto „Was auf dem Smartphone angeschaut wird, kann so schlimm nicht sein!“ Wirklich?

Man kann es nicht oft genug schreiben: Kinder im Grundschulalter sollten das Internet grundsätzlich NUR im Wohnzimmer in Gegenwart ihrer Eltern nutzen!

Warum sind viele Eltern beim Thema Internet derart sorglos?

Diese Einstellung kann – unserer Erfahrung nach – mehrere Gründe haben: Schließlich – so die oft vorherrschende Meinung vieler Erziehungsberechtigter – werden die Kinder von der Schule auf den fast jährlich stattfindenden „Medientagen“ oder in eigenen Workshops über die „Gefahren im Internet“ informiert. Sie sind ja sehr vernünftig und navigieren außerdem so behände auf ihren Handys herum, dass sie die Technik virtuos zu beherrschen scheinen.

Wozu sich als Eltern dann noch um diesen Kram kümmern?

Außerdem ist es doch – Hand aufs Herz – irgendwie auch ganz angenehm, wenn man zwar pflichtschuldigst wie alle anderen Erwachsenen über das ständige Handygedaddel schimpft, sich aber insgeheim bequem zurücklehnt und die durch den digitalen „Babysitter“ geschaffene freie Zeit genießt. Nicht zu vergessen, dass viele Mamas und Papas zudem extrem genervt reagieren, wenn der gelangweilte Nachwuchs mit seiner hie und da stattfindenden handyfreien Zeit nichts mehr anzufangen weiß und von den „Großen“ bespaßt werden will. „Double Bind“ nennt man das in der Psychologie.

Soweit, so gut (schlecht).

Was viele Eltern verdrängen, gar nicht wissen oder aufgrund des Gruppenzwangs („Die ganze Klasse ist doch schon registriert….“) vernachlässigen: die meisten Internet-Plattformen sind NICHT für Kinder unter 13 Jahren zugelassen.

Das Mindestalter für die Nutzung von Instagram, whatsapp und youtube liegt sogar bei 16 Jahren. Sie ist selbst dann nur zulässig, wenn die ELTERN einverstanden sind und ein Konto für ihr Kind anlegen. 

Die Folge: Schon im Grundschulalter sitzen die Kids völlig auf sich gestellt stundenlang vor ihren Handys oder vor dem Smart TV und gucken und staunen. Doch wissen Sie eigentlich, wer über das Internet so alles als ungebetener Gast in die Kinderzimmer einzieht und was die Kinder von ihm alles gezeigt bekommen? Die Universität Hohenheim und Münster hat in einer Befragung festgestellt, dass beispielsweise bereits die Hälfte der 14-Jährigen über das Internet mit Hardcore-Pornographie konfrontiert wurde. Und dies bei 50% der Befragten ungewollt und per Zufall. Bei Horror- oder Gewaltvideos sieht die Lage nicht viel besser aus.

Nur zur Beruhigung: Es sind nicht nur schockierende Dinge, mit denen Ihre Sprößlinge im Internet konfrontiert werden. Viele sehen sich dort einfach lustige Videos an oder chatten per Handy mit ihren Freunden. Dennoch lohnt es sich unbedingt, immer mal wieder einen Blick auf die „digitalen Vorlieben“ Ihrer Lieben zu werfen, bzw. sie danach zu fragen. Kinder sind unbedarft und neugierig und surfen munter im Netz herum, ohne zu ahnen, was es für Scheußlichkeiten in der Welt gibt. Mit den dann präsentierten Inhalten sind sie oft völlig überfordert.

Der Spot „Wo ist Klaus?“ der Initiative „Klicksafe“ illustriert in recht plastischer Form, wer im Netz möglicherweise alles auf die Kids wartet und schnell mal digital zu Besuch kommt. Und dies jederzeit und an fast jedem Ort – problemlos verfügbar via Smartphone für nahezu jedes Kind.
Denn: Im Marktsegment „Smartphone“ herrscht in Deutschland mittlerweise fast Vollausstattung bei Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren. Laut der JIM-Studie besaßen 2019 bereits 99% der in dieser Altersgruppe Befragten ein solches Gerät. Das Surfen im Internet gehört bei 97% zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen und für 90% von ihnen ist das Streamen von Videos dabei am wichtigsten. Kaum verwunderlich ist daher, das youtube einsam an der Spitze (bei 63% der Befragten) der bevorzugten Apps liegt, weit vor whatsapp (93%) und Instagram (39%).

Doch genau hier wartet möglicherweise der erste Schrecken auf die jugendlichen Internetsurfer.

Bei youtube ist nicht alles Gold, was glänzt

„Pah! Bei uns ist alles sicher!“ mögen Sie jetzt vielleicht denken. Klar, Sie haben doch „Kinderschutzprogramme“ installiert, den Browser entsprechend eingestellt und youtube läuft nur im Kids-Modus. Ernsthaft? Wissen Sie, wie schnell solche technischen Einschränkungen entweder von gewieften Kids geknackt werden oder von ekelhaften Zeitgenossen schlicht und einfach umgangen werden können? Können Sie sich vorstellen, welchen Typen Ihre Kinder dort manchmal ausgesetzt sind?

Machen Sie die Probe aufs Exempel: Geben Sie doch einmal die bevorzugten Themen Ihrer Kinder in das Suchfenster bei youtube ein und schauen Sie sich die angezeigten Treffer durch. Wenn Sie nur harmlose Filmchen auf den ersten Seiten finden: Herzlichen Glückwunsch! Falls Sie beim weiteren Durchforsten entdecken, dass man selbst unter Suchbegriffen wie „Meerschweinchen“ oder „Kätzchen“ allerlei perversen Kram tarnen kann, der dann den lieben Kleinen trotz Kindersicherung serviert wird, sind Sie durchaus nah an der Realität.

Was auch immer in solchen Köpfen (nicht) vorgehen mag: einige Leute scheinen es als eine Art „Sport“ anzusehen, ekelhafte Videos unter dem Deckmäntelchen harmloser Kinderfilm-Helden zu verpacken und die jungen Zuschauer damit zu schockieren.
Selbst wer seine Kinder alleine per youtube vermeintlich harmlose Kinder-Trickfilmserien anschauen lässt, könnte eine böse Überraschung erleben. Zunächst im englischsprachigen Raum entstand vor ein paar Jahren ein widerlicher Trend, dessen Urheber wie auch dessen Hintergründe bislang nicht genau aufgedeckt werden konnten. Ob als „Satire“ gedacht oder als gemeines Erschrecken – die Vorgehensweise wie auch die Schockwirkung auf Kinder und Jugendliche sind die gleichen:

Auf den ersten Blick täuschend echt wirkenden Filme mit Kopien von beliebten Trickfilmfiguren werden bei youtube eingestellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um bloße Raubkopien, sondern darum, eine Schockversion dieser Filme zu zeigen. Dem entsetzten jungen Publikum, das nach neuen Videos gesucht hat, wird dann im Laufe des erst harmlos beginnenden Videos eine bitterböse und brutale Variante seiner Filmlieblinge gezeigt. Zum Beispiel eine Minnie Maus, die anderen niedlichen Figuren unter Strömen von Blut die Köpfe abhackt. Oder eine Peppa Wutz, deren Papa fiese und brutale Dinge mit anderen Schweinchen anstellt. Und und und.

Rechtlich natürlich ein klarer Verstoß gegen das Urheberrecht und eine Grundlage für stattliche Klagen. Was jedoch die Produzenten dieser Horror-Trickfilme nicht stört, da sie ihre Identität trickreich tarnen und sich rechtzeitig „in Luft auflösen“, wenn es für sie brenzlig wird. Die Videos werden regelmäßig gelöscht und genauso regelmäßig wieder hochgeladen.

Über die Beweggründe der „Produzenten“ weiß man bis heute kaum etwas. Die Vermutungen reichen von „Kinderhassern“ bis zu „Satire für Erwachsene“. Am Endergebnis ändert sich dadurch aber nichts: Kinder (und häufig sind es aufgrund der Filmfiguren die ganz Kleinen) die mit solchen Bildern und den Horrorversionen ihrer Lieblinge konfrontiert werden, sind damit restlos überfordert und geschockt. Sie verstehen nicht, weshalb die liebe Trickfilmfigur, die sie so gerne mögen und die sonst immer so nett ist, plötzlich so „böse“ wird und anderen solche schreckliche Dinge antut. Und sie fragen sich, ob ihnen möglicherweise das Gleiche passieren wird – der perfekte Nährboden für Alpträume im Kinderbett.

Natürlich sendet nicht nur youtube möglicherweise schockierende Bilder ins Kinderzimmer. Auch auf anderen Plattformen findet sich jede Menge Müll, dessen Beschreibung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

Fakt ist, dass zu fast jedem Thema und zu fast jedem Star (dies betrifft auch die Helden der Spielkonsolenwelt) von Kindern und Jugendlichen schockierende Inhalte im Netz zu finden sind.

Selbst größere Kinder können dadurch ein Trauma erleiden und was noch schlimmer ist: viele wagen es nicht, davon zu erzählen, weil sie vor der Reaktion der Erwachsenen Angst haben. Beispielsweise davor, dass ihnen das Handy dann weggenommen wird. Lieber leiden sie still. Die betroffenen Eltern merken oft erst spät, dass etwas Schlimmes passiert ist. Dann, wenn die Kinder beispielsweise nicht mehr alleine einschlafen wollen oder nur noch bei eingeschaltetem Licht, wenn sie sich scheinbar grundlos vor allem Möglichen fürchten und und und.

Kommt die Wahrheit dann ans Licht, sind viele Eltern ratlos und fragen sich, wie sie ihren Kindern in dieser belastenden Situation helfen können. Mehr darüber erfahren Sie in Teil 2 dieser Artikelserie.

Wichtige Anlaufstellen für Kinder und Eltern sind die Nummer gegen Kummer oder die Initiative Klicksafe, auf deren Website Sie zahlreiche Beratungsstellen finden.

Barbara Gruber-Stahl, M.A.

Fotos: Pixabay

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